Weltethos-Institut Jahresbericht 2021

JAHRESBERICHT 2021 – Grenzen der Belastbarkeit
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Von Erneuerung zur Ernüchterung, von Neugier zur Besinnung
Im Jahr 2021 wurde die Ausnahme der digitalen Lehre zum Normalfall am Weltethos-Institut – und zur echten Belastung. War es im Vorjahr noch eine abenteuerliche und abwechslungsreiche Herausforderung, neue Formen eines „distanten Lehrangebotes“ zu entwickeln, so wurde aus der Erneuerung des ersten Jahres der Pandemie im zweiten Jahr Ernüchterung. Es macht traurig, wenn Studierende im Grundstudium auch in ihrem zweiten, dritten und vierten Semester kaum einmal einen Fuß in einen Seminarraum setzen können. Dass sie der Gruppenarbeit von Angesicht zu Angesicht entsagen müssen, dass sie die Dynamik des Begegnungslernens nicht kennen lernen können, die auch für Dozentinnen und Dozenten ein so wichtiger Teil der Lernerfahrung ist.

Kein Zweifel: Die Pandemie beschwert Bildung, Begegnung und Bewegung der Studierenden. Sie testet ihre Grenzen. Das ist zwar eine Gelegenheit, Widerstandsfähigkeit auszubilden. Aber Resilienz braucht doch Quellen, braucht Vertrauen auf kommende und bessere Zeiten, braucht Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Und genau hier setzte die Lehre des Jahres 2021 auch an: Mit Angeboten, einerseits die krisenhafte Situation zu reflektieren und sich andererseits darauf zu besinnen, was Stärke geben kann.
Bereits im Jahr 2020 hatten wir die Ringvorlesung „Stadtgespräch Weltethos: Was lernen wir in Tübingen aus der Corona-Krise?“ als öffentliches Zoom-Gespräch mit Persönlichkeiten der Tübinger Universität und Stadtgesellschaft aufgesetzt. Die Resonanz war gewaltig, auch dank andauernder Berichterstattung im Tagblatt. So lief das Stadtgespräch, meist moderiert von Dr. Christopher Gohl, weit über das Ende des Wintersemesters hinaus und mündete erst am 29. März, kurz vor Beginn des Sommersemesters, in ein Abschlussgespräch mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.
Gerade im Stadtgespräch ging es häufig darum, Belastungen und Grenzerfahrungen durch die Corona-Krise zu verdeutlichen. In der Diskussion zu „Perspektiven auf die Verhältnisse der Geschlechter“ etwa zeigten sich wie unter einem Brennglas die Belastungen der Frauen: Sie sind besonders häufig in systemkritischen und in der Pandemie deshalb auch risikoreichen Berufen vertreten. Homeoffice ist für sie keine Option. Aber nicht nur häufig in schlecht entlohnter Teilzeitarbeit, sondern auch in der Familie tragen Frauen die Hauptlast unbezahlter und unsichtbarer Sorge-Arbeit für Haushalt, Kinder und in der Pflege von Angehörigen. Zugleich erschwert der Lockdown die Hilfe durch Nachbarn oder Großeltern, oder bei den steigenden Fallzahlen häuslicher Gewalt auch die Hilfe der Frauenhäuser. Wie in anderen Krisen, sind Frauen also von den sozialen und ökonomischen Folgen von Krisen besonders hart und zuerst betroffen. Das stellt Gleichstellungserfolge in Frage und spielt antifeministischer Politik in die Hände.

Die Diskussion „Was macht Corona mit unseren Kindern?“ u. a. mit Prof. Tobias Renner, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Tübingen, zeigte in erschütternder Weise, wie Kinder unter Lockdowns zu leiden haben, mit Folgen für ihre mentale Gesundheit. Kitas im Notbetrieb, Hausunterricht, Freizeit und Freunde stark eingeschränkt: Die Corona-Krise trifft unsere Kinder, die Isolation schlaucht Familien. Und die Pandemie wird, ergab die Diskussion, die „Generation Corona“ auch langfristig belasten.
Mit einer zweiten öffentlichen Ringvorlesung zu „Kulturen der Humanität“, getragen vom Weltethos-Institut, dem China-Zentrum Tübingen und dem Erich-Fromm-Institut, konnten wir im Sommersemester 2021 aber auch Besinnung anbieten auf das, was wirklich wichtig ist und in die Zukunft trägt – die Menschlichkeit. Unter dem Druck der Krise erleben wir sie einerseits besonders intensiv und gerne als Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Sorge füreinander. Andererseits ist es mit dem „Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen“ (Diderot) auch nicht weit her, wenn Menschen im Kampf um ihre Freiheit ihre eigenen Interessen rücksichtslos über die Ansprüche anderer stellen.

So wird uns in der Krise bewusst, dass Menschlichkeit stets gefährdet und nie ganz gewonnen ist. Soll sie von Dauer sein, dann braucht Humanität stützende und schützende Formen in Halt und Haltung, in Konventionen und Kultur. In den großen religiösen und philosophischen, aber auch wissenschaftlichen Traditionen der Menschheit sind diese Formen der Menschlichkeit immer wieder kultiviert worden. Was wir aus diesen Traditionen in den Zeiten der Pandemie und für das zukünftige menschliche Miteinander lernen können, zeigten zahlreiche Beiträge Tübinger und externer Dozentinnen und Dozenten, stets moderiert von Dr. Bernd Villhauer.
Neben diesen Ringvorlesungen luden unsere Dozentinnen und Dozenten dazu ein, Themen wie ethische Unternehmensführung, Krisengovernance, Konflikte in Unternehmen, Ethos als Herzensbildung oder Ethics in International Relations für das eigene Leben neu zu denken.
Unerwartete Belastungen erfuhr im Sommersemester auch das Team Lehre selbst, als Koordinator Dr. Gohl Anfang Mai kurzfristig in den Deutschen Bundestag nachrückte und für reguläre Arbeit weitgehend ausfiel. Zwar endete seine Berliner Zeit zum Start des Wintersemesters, aber die Abwesenheit in einem kleinen Team konnte nur mit Solidarität, Geduld und weiteren Überstunden der Kolleginnen und Kollegen kompensiert werden. Grenzen der Belastbarkeit: Sie waren für uns 2021 eben nicht nur ein akademisches Thema!

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