Digitalisierung unter Druck: Wie bewältigen wir die neuen Herausforderungen der digitalen Zeit?
Das Jahresmotto des Weltethos-Instituts 2021 befasst sich mit dem Thema „Grenzen der Belastbarkeit“. Die Corona-Pandemie hat hier in praktisch allen Ländern der Erde Grenzen des Machbaren, aber auch Grenzen der Klugheit und Reichweite politischen Handelns aufgezeigt. Darüber hinaus förderte die Situation eine beschleunigte Digitalisierung in allen Lebensbereichen, die zugleich aber neue Fragen aufwarf.
„Wo bleibt der Mensch?“ lässt sich beispielsweise fragen. So wie in früheren Zeiten der Unterschied zwischen Menschen und Tieren erörtert wurde, so stellt sich heute darüber hinaus die Frage nach der Einzigartigkeit von Menschen in Abgrenzung von Künstlicher Intelligenz. In seinem Beitrag „Defizitmodell des Menschen oder digitale Humanität“ begründet Ulrich Hemel, dass die funktionale Leistungsfähigkeit digitaler Programme auch in kognitiven Aufgabenstellungen nicht dazu führen sollte, Menschen nur von ihrer Vernunftfähigkeit und ihrer kognitiven Performance her zu betrachten. Denn die Folge wäre eine Sichtweise, in der Menschen mittelfristig nur noch als eine Art defizitärer KI gesehen würden. Im Gegensatz dazu ist es wesentlich, die komplexe Symbol- und Kooperationsfähigkeit des Menschen, aber auch seine einzigartige Fähigkeit zur Selbststeuerung stärker in den Vordergrund zu schieben. Menschen sind nicht nur Gegenstand fremder Zwecke und Ziele, sondern Selbstzweck. Sie können – anders als eine Künstliche Intelligenz – mitten im Fluss einer Tätigkeit ihre Zielrichtung und ihr Verhalten verändern. Und sie schaffen komplexe Kulturleistungen, von einer Europäischen Zentralbank bis zu einem Philharmonischen Orchester.
Solche Themen müssen in der aktuellen Zeit auch ins Bildungswesen Eingang finden. Menschenrechte und Menschenpflichten werden heute auch über digitale Bildung und digitale Teilhabe definiert. Dazu müssen junge Menschen aber auch in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt mit Daten umzugehen und sich gemäß eigenen Zielen und Zwecken in der digitalen Welt zurecht zu finden. Übergreifendes Ziel ist dann eine „Digital Literacy“, wie sie in der European Digital Literacy Chart ihren Widerhall findet.
Die digitale Souveränität von Personen findet auf organisatorischer Ebene ihre Entsprechung in der Forderung nach einer Praxis digitaler Fairness. Unternehmen werden verstärkt in die Wirkung ihrer digitalen Aktivitäten investieren müssen, wenn sie von Kundinnen und Kunden als „digital fair“ anerkannt werden und eine hinreichende digitale Reputation erzielen wollen.
Dabei ist „digitale Verantwortung“ mehrschichtig und mehrstufig zu begreifen. Sie umfasst nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch die mittlere Ebene der Unternehmen und Organisationen sowie die Ebene des staatlichen Handelns, also die Frage nach gesetzlichen Normen zur Förderung „digitaler Solidarität“.
Nicht zufällig erlauben diese drei Ebenen der Person, der Institution und des Staates eine Anknüpfung an die Grundpfeiler der Sozialen Markwirtschaft, die sich ursprünglich aus der Christlichen Soziallehre mit ihren Forderungen nach Personalität, Subsidiarität und Solidarität ableitet. Eine neue Ethik der Digitalität kann folglich als Chance für eine Renaissance dieser christlichen Sozialethik begriffen werden. Neue Möglichkeiten ziehen auch Risiken und Gefahren nach sich. Die Möglichkeiten wollen wir klug nutzen, die Risiken idealerweise vorab erkennen und vermeiden oder zumindest minimieren.
Im Zentrum der Bemühungen steht am Ende die Forderung nach einer vertrauenswürdigen Gestaltung der digitalen Welt durch die Förderung digitaler Humanität. Denn nicht Maschinen haben Verantwortung, sondern Menschen. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist eine gewaltige Aufgabe, deren Umfang sich bisher erst in kleinen Schritten abzeichnet. Das Weltethos-Institut leistet einen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe.