Weltethos-Institut Jahresbericht 2021

JAHRESBERICHT 2021 – Grenzen der Belastbarkeit
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Grenzen der Belastbarkeit: Demokratie unter Druck?
Ein Kommentar von Dr. Christopher Gohl
Wir leben in „Bewährungsjahren für unsere Demokratie“ (Bundespräsident Steinmeier): Ihre Feinde werden extremer, die Krisen und Herausforderungen größer, das Misstrauen tiefer, der Zusammenhalt geringer, der Ton schriller. Es ist ein Weckruf, dass jeweils mehr als die Hälfte der Deutschen die Akzeptanz der Demokratie als gute Regierungsform an gute Ergebnisse knüpft, aber mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden ist. Gerade die Erfahrungen der Corona-Krise zeigen ja, dass wir die Organisation unserer Demokratie verbessern müssen, wenn wir die Veränderungen des Klimawandels und der Digitalisierung im inneren Frieden und auf der Basis von Fakten miteinander gestalten wollen.
Kann unsere Demokratie mit ihren Aufgaben wachsen? Oder gibt sie im Stresstest der vielfältigen Umbrüche und Angriffe ihren Geist auf? Forscherinnen und Forscher kennen die Zukunft der Demokratie so wenig wie der Bundespräsident. Aber sie können die Hoffnung begründen und Hilfestellung dafür leisten, dass wir als Demokratinnen und Demokraten dazu lernen und die Formen unserer Demokratie weiterentwickeln können – und damit am Ende auch zu steigendem Vertrauen in die Demokratie beitragen.  
Am Weltethos-Institut forschen wir schon seit einigen Jahren zu den Lernprozessen in einer Demokratie. Das Interesse daran geht zurück auf eine Einsicht Hans Küngs, formuliert im „Projekt Weltethos“ 1990: Dialogfähigkeit heißt Friedensfähigkeit. Und der Zusammenhang ist, so hat Institutsdirektor Ulrich Hemel vorgeschlagen, ohne Lernfähigkeit nicht denkbar. Und so forschen wir unter dem Leitbild der „lernenden Demokratie“, wie es zuerst Dr. Raban Daniel Fuhrmann, Freund, Partner und Dozent der ersten Stunde am Weltethos-Institut, vorgeschlagen hat. Welche Kraft in den Motiven der lernenden Demokratie steckt, konnte ich als Mitglied des Bundestages zuletzt als Initiator und Moderator eines Fachgesprächs im Bundestag zu Herausforderungen der „Demokratiepolitik“ Ende September 2021 in Berlin erproben.
Demokratie ist, sagen die amerikanischen Pragmatisten, ein Rezept zur intelligenten partizipativen Lösung von Problemen, die uns als öffentliche Angelegenheiten verbinden (zum Gemeinwesen der Republik). Demokratische Verfahren machen Betroffene zu Beteiligten. Diese können, je nach Verfahren, Probleme benennen, bewerten, kreative Lösungen suchen, darüber entscheiden und an der Umsetzung teilhaben. Demokratie schafft damit eine besondere Form von Wissen: Vorläufiges, angewandtes, schöpferisches, auf Konsens gerichtetes Wissen.
Mit der intelligenten Einbindung von Betroffenen wird die problemverarbeitende Demokratie lernfähig. Das demokratische System sei ein Lernsystem, schrieb der Soziologe Karl Otto Hondrich 2005: „Es lernt durch Versuch, Irrtum und Revision“. Lernende Systeme und Organisationen aber sind besonders leistungs- und widerstandsfähig – genau das, was unser politisches System heute sein muss. Wenn nun Demokratiepolitik die Lernfähigkeit der Demokratie stärken könnte, dann kann es gelingen, Probleme stetig besser zu verarbeiten und den gegenwärtigen Druck auf die liberale Demokratie in einen Schub des Fortschritts umzuwandeln.  
Was wären nun die Ansatzpunkte von Demokratiepolitik, verstanden und ausgerichtet auf die Sorge um die Lernfähigkeit von Institutionen, Verfahren, politischer Kultur und demokratischem Personal? Ich meine, wir könnten drei große Felder der Demokratie unterscheiden.
Zunächst ist Demokratie die durch Verfassung und Rechtsstaat gewaltenteilig und föderal organisierte freiheitlich-demokratische Grundordnung. Sie hat dauerhaft im weltweiten Konzert mit anderen Demokratien Bestand, pflegt also Partnerschaften mit Demokratien weltweit. Als wehrhafte Demokratie stellt sie sich gegen ihre Feinde. So schafft sie die Freiräume für demokratische Such- und Lernprozesse, wie sie als dialogische Feedback-Schleifen von Kritik und Korrektur die beiden nächsten Felder der Demokratie stärker prägen könnten.
Dementsprechend kann Demokratie als Regierungsform besser organisiert werden. Dazu gehören ein modernisiertes Wahlrecht, ein gegenüber der Bundesregierung gestärkter Bundestag und vor allem viel besser organisierte Beratungen für nachhaltige Entwicklung – einerseits durch neue Formen der Bürgerberatung, etwa des Bürgerrates, aber auch durch bessere wissenschaftliche Begleitung und Beratung. Zur Modernisierung demokratischer Regierung gehört auch die Digitalisierung des Staates und eine „lernende Verwaltung“, ja: ein lernender Staat  
Schließlich könnten wir Demokratie als Lebensform der Freien und Gleichberechtigen vertiefen – mit besserer politischer Bildung, der Entlastung und Entfesselung bürgerschaftlichen Engagements, einer toleranten Öffentlichkeit und vielfältigen Medien, Maßnahmen zur Integration einer selbstbestimmten und vielfältigen, friedlichen und offenen Gesellschaft, mit Selbstbestimmung für Homosexuelle und Transmenschen; sowie durch die Förderung sozialer Innovationen. Am Weltethos-Institut legen wir dabei besonderes Augenmerk auf die Rolle der Unternehmen als „Corporate Citizens“.  
Demokratie als die Kunst gemeinsamen Regierens und Demokratie als Form gleichberechtigten, freiheitlichen und vielfältigen Zusammenlebens stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Demokratiepolitik gewährleistet die Voraussetzungen der selbstwirksamen Teilnahme von Bürgerinnen und Bürgern an der gemeinsamen, effektiven Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten. Dem Leitbild der lernenden Demokratie zufolge betrifft das die Teilnahme an dialogischen Lernprozessen. Eine besser informierte Demokratie, die aus Fehlern lernen kann, sollte am Ende auch bessere Entscheidungen treffen – und Zukunftsvertrauen auch in Krisen rechtfertigen.
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